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Selbstunsicher-vermeidende Persönlichkeitsstörung

Vergleichende Klassifikation nach
ICD-10   DSM-IV
F60.6 Ängstliche (vermeidende) Persönlichkeitsstörung 301.82 Vermeidend-Selbstunsichere Persönlichkeitsstörung
ICD-10 online DSM IV online

Die ängstliche (vermeidende), auch selbstunsichere Persönlichkeitsstörung (selten: generalisierte soziale Phobie) ist gekennzeichnet durch Gefühle von Anspannung und Besorgtheit, Unsicherheit und Minderwertigkeit. Es besteht eine andauernde Sehnsucht nach Zuneigung und Akzeptiertwerden, eine Überempfindlichkeit gegenüber Zurückweisung und Kritik mit eingeschränkter Beziehungsfähigkeit. Die betreffende Person neigt zur Überbetonung potentieller Gefahren oder Risiken alltäglicher Situationen bis zur Vermeidung bestimmter Aktivitäten.

Die Prävalenz (Häufigkeit) dieser Persönlichkeitsstörung liegt bei 0,5–1 %.[1]

Beschreibung

Charakteristisch für vermeidende Persönlichkeiten ist, dass sie sich unsicher, gehemmt, unattraktiv und minderwertig fühlen und aus Angst vor Kritik, Zurückweisung und Verspottung soziale Kontakte meiden. Dabei geraten sie nicht selten in soziale Isolation. Ihr geringes Selbstvertrauen wird von anderen meist positiv oder gar nicht gesehen, weil sie sich nicht in den Vordergrund drängen, bescheiden, „pflegeleicht“ und verlässlich sind, problemlos zu gängeln, trauen sie sich doch ohnehin nichts zu, insbesondere nicht, „Nein“ zu sagen. Nicht selten genießen diese Menschen sogar ein hohes Ansehen bei ihren Mitmenschen, da sie stets versuchen, ihren vermeintlich minderwertigen Charakter durch sehr gute Leistungen im Beruf bzw. sehr hohe Aufopferungsbereitschaft innerhalb des Bekanntenkreises zu kompensieren. Schon früh macht sich bei ihnen eine belastende soziale Gehemmtheit bemerkbar, Unfähigkeitsgefühle, Überempfindlichkeit gegenüber negativer Kritik, Schüchternheit, leichtes Erröten und schnelle Verlegenheit. Ständige Selbstzweifel plagen sie.[2] In Gesprächen mit anderen halten sie keinen Augenkontakt, sondern fixieren andere Regionen des Gegenübers oder Gegenstände im Raum. In sozialen Kontakten wirken sie unzufrieden, gequält, distanziert, der Redefluss ist zäh und stockend.

Ursachen und Krankheitsentstehung

Immer häufiger werden biogenetische Ursachen diskutiert, vor allem eine persönlichkeitstypische Vulnerabilität (= Verwundbarkeit) in Form innerer Unruhe, Anspannung, Nervosität und damit mangelhafter Reagibilität und schließlich Verletzbarkeit. Demnach handelt es sich um eine genetische Prädisposition, die bei ungünstiger Kombination durch die drohenden negativen psychosozialen Einflüsse im Alltag einen ursächlichen Beitrag zur Ausprägung einer solchen von vielen Einflüssen bedingten Störung darstellen kann.[3]

Die Veranlagung zu Persönlichkeitsstörungen wird, so nimmt man an, oftmals von Verwandten 1. Grades weitervererbt. Wenn zudem pathogene (krankmachende) Familienverhältnisse vorliegen, kann es dann zur Manifestation der Störung beim Kind führen. Eine ursächliche Betrachtungsweise, die jedoch die Vererbung zu sehr betont, hat dabei gerade bei der ängstlich vermeidenden Persönlichkeitsstörung keine ausreichende wissenschaftliche Grundlage in Form von genügend aussagekräftigen Studien, und sollte nicht vom entscheidenden Einfluss gerade der frühen Kindheit ablenken.

Die betreffenden Kinder geraten in einen Konflikt zwischen Bindungs- und Autonomiebedürfnis. Einerseits sehnen sie sich nach Nähe und Sicherheit, andererseits vermeiden sie enge Beziehungen. Sie fallen entweder durch ein schnell reizbares und überdrehtes („cranky“) Interaktionsmuster oder aber durch ein verschlossenes und in sich gekehrtes Verhalten auf. Zudem können sie von den Eltern zurückgewiesen und abgewertet werden, ebenso von Freunden und anderen nahestehenden Personen. Das könnte zur Folge haben, dass sich die zunächst nur von außen erfahrbaren Zurückweisungen und Abwertungen in Selbstabwertung und Selbstentfremdung fortsetzen; Selbstwert kann infolgedessen nicht aufgebaut werden, Freundschaften und soziale Bindungen können dadurch kontinuierlich abgesetzt werden. Zusätzlich unterschätzen sie ihre eigenen interpersonellen Fähigkeiten und haben in Stresssituationen oft ungünstige, negative und selbstkritische Gedanken.

Ihr Verhalten ist Ausdruck von Angst und Hilflosigkeit gegenüber den elterlichen Erziehungspraktiken; bisweilen kommt es später zu Entfremdung. Eltern werden als unterdrückend, einengend, emotionsarm und wenig einfühlend erlebt (siehe auch Doppelbindungstheorie).

Unter solchen und ähnlichen Erziehungsbedingungen würde sich die Persönlichkeitsentwicklung eines solchen Kindes fast zwangsläufig in Richtung Ängstlichkeit und Vermeidung sozialer Herausforderungen bewegen. Die natürlichen Energien und Möglichkeiten seien dadurch bald erschöpft. Die Zurückweisungen und Abwertungen mündeten notgedrungen schließlich in eine Selbstabwertung und Selbstentfremdung. Und dies alles führe schließlich dazu, dass Freundschaften und soziale Bindungen kontinuierlich gemieden würden oder zumindest zunehmend angstbesetzt seien, was letzten Endes auch zu der verhängnisvollen Vermeidungs-Strategie beitrage.

Die gelegentlich irreführend selbstsichere Erscheinung ist eine Art „äußere Maske“ als Folge einer darunterliegenden chronischen Anspannung, die vor dem Hintergrund der erhöhten Vulnerabilität als Schutzmechanismus zu verstehen ist.

Es entsteht bei ihnen eine ständige Angst und Anspannung, die zum Rückgang von sozialen Kompetenzen führen. Dies wiederum erzeugt einen Teufelskreis, so dass sie sich entweder gar nicht mehr auf soziale Beziehungen und berufliche Aufgaben einlassen oder nur noch dann, wenn sie sich sicher sind, dass sie dabei nicht verletzt werden. Zu neuen Erfahrungen oder für alternative Möglichkeiten sind sie immer weniger bereit.

Potentielle Partner müssen bei ihnen oft jahrelange „Prüfungen“ durchlaufen, um wirklich intim zugelassen zu werden. Beziehungen sind daher selten und oft konfliktbeladen. Starke Verlassensängste und Abgrenzungsprobleme führen oft zu Beziehungszusammenbrüchen und damit zu einer Wiederholung ihrer Befürchtungen.

Typen

Die gehemmte Persönlichkeitsstörung lässt sich weiter in zwei Subtypen aufteilen, deren Verteilung etwa identisch ist.

Die eine Gruppe lässt sich als „kühl-distanziert und sozial-vermeidend“ („cold-avoidant“) beschreiben. Sie haben Probleme, warme Gefühle auszudrücken, und sind misstrauisch anderen gegenüber.
Charakteristisch für die „nachgiebig-ausnutzbare“ („exploitable-avoidant“) Gruppe ist, dass sie sich von anderen ausgenutzt fühlen oder werden und es ihnen Probleme macht, anderen Grenzen aufzuzeigen (= nein sagen). Im sexuellen Bereich kann dies oft Abgrenzungsprobleme geben, die Missbrauch durch andere begünstigen.

Es handelt sich bei den beiden Gruppen um Idealtypen. Eine genaue Abgrenzung ist nur selten möglich, Mischbilder sind häufig.

Im Gegensatz zu vielen anderen Persönlichkeitsstörungen, wie z. Bsp. der schizoiden Persönlichkeitsstörung oder der antisozialen Persönlichkeitsstörung, verspüren die Betroffenen einen hohen Leidensdruck und sind sich oftmals auch einer Störung bewusst. Da die Lebensqualität der Betroffenen dadurch sehr eingeschränkt ist, sind viele auch bereit, professionelle Hilfe anzunehmen. Daher weisen Menschen mit einer ängstlichen (vermeidenden) Persönlichkeitsstörung eine hohe Compliance auf.

Klassifizierung nach ICD und DSM

ICD-10

Für die Diagnose nach ICD 10 (Code F60.6) müssen mindestens vier der folgenden Eigenschaften oder Verhaltensweisen vorliegen :

  1. andauernde und umfassende Gefühle von Anspannung und Besorgtheit;
  2. Überzeugung, selbst sozial unbeholfen, unattraktiv oder im Vergleich mit anderen minderwertig zu sein;
  3. übertriebene Sorge, in sozialen Situationen kritisiert oder abgelehnt zu werden;
  4. persönliche Kontakte nur, wenn Sicherheit besteht, gemocht zu werden;
  5. eingeschränkter Lebensstil wegen des Bedürfnisses nach körperlicher Sicherheit;
  6. Vermeidung beruflicher oder sozialer Aktivitäten, die intensiven zwischenmenschlichen Kontakt bedingen, aus Furcht vor Kritik, Missbilligung oder Ablehnung.

Überempfindlichkeit gegenüber Ablehnung und Kritik können zusätzliche Merkmale sein.

DSM-IV

Ein tief greifendes Muster von sozialer Gehemmtheit, Insuffizienzgefühlen und Überempfindlichkeit gegenüber negativer Beurteilung. Der Beginn liegt im frühen Erwachsenenalter und die Störung manifestiert sich in verschiedenen Situationen. Der Code lautet 301.82, wobei mindestens vier der folgenden Kriterien erfüllt sein müssen:

  1. vermeidet aus Angst vor Kritik, Missbilligung oder Zurückweisung berufliche Aktivitäten, die engere zwischenmenschliche Kontakte mit sich bringen,
  2. lässt sich nur widerwillig mit Menschen ein, sofern er/sie nicht sicher ist, dass er/sie gemocht wird,
  3. zeigt Zurückhaltung in intimen Beziehungen, aus Angst beschämt oder lächerlich gemacht zu werden,
  4. ist stark davon eingenommen, in sozialen Situationen kritisiert oder abgelehnt zu werden,
  5. ist aufgrund von Gefühlen der eigenen Unzulänglichkeiten in neuen zwischenmenschlichen Situationen gehemmt,
  6. hält sich für gesellschaftlich unbeholfen, persönlich unattraktiv und anderen gegenüber unterlegen,
  7. vermeidet persönliche Risiken und neue Unternehmungen, weil diese sich als beschämend erweisen könnten.

Korrelation mit anderen Krankheiten

Vor einer suffizienten (erfolgversprechenden) Therapie muss die richtige Diagnose gestellt werden, indem die Symptome gegenüber denjenigen anderer Krankheiten abgegrenzt werden. Selbstunsichere Persönlichkeiten ziehen sich aktiv zurück, vermeiden also bewusst soziale Beziehungen, im Gegensatz zu schizoiden Persönlichkeiten, die sich passiv zurückziehen. Der größte Unterschied zwischen beiden Störungen ist, dass erstere durch ein geringes Selbstvertrauen und durch die Angst vor Zurückweisungen anderer Menschen bedingt ist, was bei der zweiteren weniger eine Rolle spielt.

Ein Hauptproblem bei der Differenzialdiagnostik liegt in der erheblichen Kriterienüberlappung zur sozialen Phobie. Sozialphobiker haben meist eng umschriebene Ängste (zum Beispiel vor Prüfungen, öffentliche Reden etc.), während die von ängstlichen Persönlichkeiten auf unterschiedlichste Situationen weit ausgedehnt ist. Außerdem wird die ängstliche (vermeidende) Persönlichkeitsstörung im höheren Maße als ich-synton erlebt, das heißt, dass sie ihre ängstlichen Denkmuster bzw. ihr unsicheres Selbst trotzdem als integrativen Bestandteil ihrer Persönlichkeit betrachten. Wohingegen reine Sozialphobiker ihre Symptome eindeutig als ich-dyston, also klar als Störung, die nicht Teil der Persönlichkeit ist, identifizieren. Wichtiges Merkmal zur Unterscheidung ist schließlich der bei Personen mit ängstlich vermeidender Persönlichkeitsstörung niedrigere Selbstwert.

Überschneidungen gibt es ebenfalls bei den Diagnosekriterien der abhängigen Persönlichkeitsstörung, bei denen allerdings, anders als bei Personen mit ängstlich vermeidender Persönlichkeitsstörung, das Bedürfnis des Umsorgt-Werdens im Vordergrund steht. Beide Persönlichkeitsstörungen können aber auch gleichzeitig bestehen. Eine ebenfalls häufig auftretende Komorbidität besteht mit der Borderline-Persönlichkeitsstörung.[4] S.15

Behandlung

Menschen mit einer Angststörung weisen oft folgende Persönlichkeitsstörungen auf, was erklärt, warum bei diesen die sonst sehr erfolgreichen konfrontativen und kognitiven Interventionsstrategien nicht so rasch wirken wie bei anderen Angstpatienten: Bei Ängstlichen (vermeidenden) Persönlichkeitsstörungen bestehen ständige Sorgen und Befürchtungen, anhaltende Vermeidungsreaktionen, ausgeprägte Minderwertigkeitsgefühle und massive Ängste bezüglich sozialer Ablehnung, die auch durch eine längere Psychotherapie nur schwer veränderbar sind.

Die Wahl der Therapie sollte vom Patienten mitbestimmt werden.

Siehe auch

Literatur

Weblinks

Einzelnachweise

  1. pro-psychologie.de (abgerufen am 9. August 2013)
  2. Fiedler: Persönlichkeitsstörungen, Abschnitt 51ff (PDF; 832 kB)
  3. Die bei ängstlich vermeidenden Personen stark ausgeprägten Persönlichkeitsmerkmale Neurotizismus und Introversion gelten als vererbbar. Siehe Leitlinie Persönlichkeitsstörungen der AWMF Leitlinien Persönlichkeitsstörung (PDF; 4,0 MB) S. 40.
  4. http://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/038-015l_S2_Persoenlichkeitsst%C3%B6rung_2011-09_01.pdf
  5. Seite 2009
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Quelle: Wikipedia
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